Dr. med. Munther Sabarini, Facharzt für Neurochirurgie, ist Gründer und Direktor der Avicenna Klinik in Berlin. Weltweit gilt er als Experte für Beschwerden und Krankheitsbilder der Wirbelsäule. Im Interview räumt er mit einigen Missverständnissen und Mythen rund um das Thema „Rücken“ auf.
Viele Menschen glauben, dass kaltes Wetter Rückenbeschwerden auslöst. Was ist „dran“ an dieser Vorstellung?
Dr. Sabarini: Das ist einer der vielen Irrtümer, die sich hartnäckig halten. Die Behauptung vereinfacht die tatsächlichen Zusammenhänge. Wer friert, bewegt sich weniger und versucht stattdessen, sich auf dem Sofa gemütlich einzumummeln. Konsequenter Bewegungsmangel führt allerdings bereits innerhalb weniger Tage zu Veränderungen des Bänder- und Muskelapparates. Kraft und Elastizität lassen nach. Ruckartige Bewegungen oder plötzliche Belastungen führen dann dazu, dass beispielsweise die Muskeln sich verspannen oder gar gezerrt werden.
Nicht umsonst wird im sportlichen Training ein konsequentes Aufwärmen gefordert: Ein gut durchbluteter, elastischer und von starken Muskeln gestützter Bewegungsapparat ist insgesamt weniger verletzungsgefährdet. Dagegen führen die beschriebenen Verspannungen zu einer Fehlhaltung und auf die Dauer häufig zu Rückenbeschwerden.
Die meisten dieser Verspannungen vergehen von selbst, wenn die Patienten sich wieder ausreichend bewegen. Gezielte Gymnastik und ausgleichende Übungen helfen. Anhaltende Schmerzen sind häufig Anzeichen für ein verschobenes Gelenk oder eingeklemmte Nerven: In diesen Fällen ist ein Arztbesuch empfehlenswert.
Mein Rat: Auch in der ungemütlichen Jahreszeit weiter Sport treiben und in Schwung zu bleiben, beugt zahlreichen Problemen des Bewegungsapparates vor.
Was hilft nun wirklich gegen Rückenschmerzen? Ist Wärme das richtige Mittel?
Dr. Sabarini: Das stimmt nur bedingt und hängt immer von der Ursache der Rückenschmerzen ab. Wir haben Verspannungen und Zerrungen der Muskulatur angesprochen: Hier sorgt Wärme dafür, dass das Gewebe wieder besser durchblutet wird und Muskeln sich entspannen.
Bei einer Prellung, einer akuten Entzündung oder gar einem eingeklemmten Nerv verstärkt Wärme die Schmerzen.
Bei einem stumpfen Trauma oder einer Prellung hilft Kühlen bei der Heilung.
Ein weiterer positiver Effekt beim Kühlen besteht darin, dass die Schmerzreize verlangsamt ans Gehirn weitergeleitet werden. Kälte hilft kurzfristig sogar bei Hexenschuss und Ischias-Schmerzen sowie den Folgen von Bandscheibenvorfällen. Sie dämpft also die Beschwerden. Die Ursachen bleiben jedoch weiter bestehen. Auch hier gilt wieder: Wenn die Schmerzen sich nicht nach einigen Tagen bessern, oder so zunehmen, dass sie die Beweglichkeit einschränken, brauchen die Betroffenen dringend ärztliche Hilfe.
Lange Zeit wurde Rückenschmerz-Patienten das Stillliegen verordnet. Würden Sie das heute noch vertreten?
Dr. Sabarini: Nein, denn das war eklatant falsch und gehört längst ins Reich der Märchen. Heute ist es gängige Praxis, die Beweglichkeit zu erhalten und zu fördern. Das gilt selbst für Osteoporose-Patienten, die mit einem erhöhten Risiko von Knochenbrüchen leben. Der Körper baut alle Strukturen ab, die nicht benutzt und trainiert werden. Dem muss der Patient entgegenwirken.
Muskeln schrumpfen, Gelenke werden weniger gut durchblutet und verlieren an Elastizität und Knorpelmasse, Bänder und Sehnen verkürzen sich buchstäblich, wenn sie nicht ausreichend gefordert und beansprucht werden. Muskeln, Bänder und Sehnen sind umgekehrt in der Lage, Schäden der Wirbelsäule zu kompensieren, vorausgesetzt, sie sind stark und belastbar.
Physiotherapie, gezielter Muskelaufbau und bewusste Schulung der Beweglichkeit sind selbst bei kranken, stark geschwächten Patienten möglich und wichtig.
Früher hieß es, halt dich gerade! Dann bleibt dein Rücken gesund. Was hat es damit auf sich?
Dr. Sabarini: Richtig ist es, dass sich niemand eine einseitige, schiefe, nachlässige Haltung angewöhnen sollte. Umgekehrt führt eine starre Haltung zu einer Überlastung der Muskeln. Mit der Zeit stellen sich in beiden Fällen Fehlbelastungen und damit Verschleiß ein.
Häufig bekommt ein von Rückenschmerz geplagter Mensch spöttische Kommentare zu hören wie „Na, wirst du langsam alt?“
Dr. Sabarini: Das stimmt auch nicht. Rückenschmerzen können jeden treffen. Die Ursachen reichen von genetisch bedingten Erkrankungen, Unfallfolgen und Traumata, über Fehlstellungen und Überbeanspruchung mit Verschleißfolge oder sogar Tumore. Es trifft daher Kinder ebenso wie alte Menschen, Sportler oder weniger aktive Personen. Auch gehen nicht alle Rückenschmerzen zwangsläufig von der Wirbelsäule aus. Anhaltende oder sich steigernde Beschwerden sollten daher immer vom Arzt abgeklärt werden. In den weitaus meisten Fällen helfen Physiotherapie und Muskelaufbau durch Sport.
Darüber hinaus haben wir Fachärzte viele Möglichkeiten, einzugreifen. Bandscheibenvorfälle oder -vorwölbungen, Gleitwirbel, verengte Wirbelkanäle, Zysten oder Tumore sind mit modernen Methoden gut zu behandeln. Selbst viele Eingriffe sind heute minimalinvasiv und sehr schonend für die Patienten durchführbar. Dazu zählen beispielsweise die perkutane Nukleotomie: Dabei wird ein Stück Bandscheibe, das nach einem Vorfall auf einen Nerv drückt, per Sonde und Kanüle entfernt.
Die perkutane Facetten-Thermodenervation ist eine punktgenaue Schmerztherapie mit Radiofrequenztechnik mit deren Hilfe Schmerzen an den Wirbelsäulengelenken erfolgreich behandelt werden können.
Die Kyphoplastie ist eine minimalinvasive Stabilisierungstechnik bei Wirbelfrakturen, die insbesondere bei Osteoporose-Patienten zur Anwendung kommt.
Die Dekompressions-Operation dient der Erweiterung bei Spinalkanalstenosen.
All diese genannten Verfahren helfen nachhaltig gegen Schmerzen. Die Patienten werden wieder mobil und bekommen ihre Lebensqualität zurück.
Letzte Aktualisierung am 24.11.2022.